Händescheidung ohne Köpfe? Eine Polemik

Prof. Dr. Felix Thürlemann

 

Die heutige kunstwissenschaftliche Praxis ist noch immer weitgehend einem zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ausgeprägten Konzept der Kennerschaft verhaftet, das die einzelnen Werke nach dem graphologischen Modell als direkten Ausfluß einer künstlerischen Persönlichkeit betrachtet. Mit dem Erkennen und Benennen einer individuellen "Hand" meint man den zugehörigen Kopf erkannt zu haben.

Dieses Konzept, das für die meisten älteren Kunstepochen, aber auch für einen Großteil der nachmodernen Kunstproduktion inadäquat ist, wird heute durch zwei Faktoren weiter am Leben erhalten, ja zunehmend verstärkt: durch die zeitgenössische Medienkultur (Stichwort: Reproduktionspraxis) und durch die Gesetze des Kunstmarktes und des Tourismus, die - als kostbare Gegenfiguren zur Flut der wohlfeilen Reproduktionen - handgemachte Einzelwerke ("Originale") brauchen, die mit einem großen Namen verbunden werden können.

Als "Hilfswissenschaft" wird heute innerhalb der Kunstwissenschaft eine auf Händescheidung sich beschränkende und sich selbst bescheidende Kennerschaft praktiziert, die an den meisten Formen der kunstgeschichtlichen Wirklichkeit vorbei führt. Gegen dieses anachronistische kennerschaftliche Modell wird - mit Bezug auf die Figur von Robert Campin - für ein integriertes Modell der Kennerschaft plädiert, das künstlerische Kopfarbeit und künstlerische Handarbeit vorerst trennt, um sie anschließend in ihren spezifischen Formen des Zusammenspiels zu untersuchen. Ein solches Modell erlaubt es unter anderem, Werktypen wie Tapisserien und Stickereien wieder ins Zentrum der kunstwissenschaftlichen Arbeit zu rücken, die als Nicht-Originale unter dem Stichwort "Kunsthandwerk" marginalisiert wurden, weil bei ihnen erfindender Kopf und ausführende Hände nicht dem gleichen Individuum zugeordnet werden können.

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 01.07.2009
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