Von der Hand zum Genie - Zuschreibungen und das Manko der Notnamen

Dr. Stephan Kemperdick

 

In der europäischen Kunstgeschichte ist der Wunsch, Kunstwerke mit den Namen ihrer Schöpfer zu verbinden, bei einschlägigen Fachgelehrten wie beim breiten Publikum gleichermaßen groß. Die zugrundeliegende Vorstellung, ein Kunstwerk sei immer auch das Zeugnis einer individuellen Persönlichkeit, ihrer Begabungen und Interessen, ist, obgleich erst durch die Moderne in ungekanntem Maße gesteigert, für die Zeit des Spätmittelalters nicht verfehlt. Hier hat sich ein entsprechendes Ordnungsprinzip nach Künstlern daher als grundlegend etabliert und tatsächlich auch als praktikabel erwiesen.

Diesem Ordnungsprinzip kann mit dem Behelf der sogenannten Notnamen auch bei jener Mehrheit der bildkünstlerischen Werke genüge getan werden, die nicht mehr mit den bürgerlichen Namen ihrer einstigen Hersteller verknüpft sind. Indes wird das Fehlen des Eigennamens offenbar - ob bewußt oder nicht - als ein Manko empfunden. Dieses wiederum wird mitunter gleichsam in die Entstehungszeit der fraglichen Objekte zurückprojiziert. Obgleich die Gründe für Kenntnis oder Unkenntnis eines historischen Künstlernamens von Fall zu Fall ganz unterschiedlich sein können, scheint der heute Namenlose dem mit Vor- und Zunamen bekannten oftmals unterlegen. Namen sind, selbst bei dürftigsten Anhaltspunkten zur Vita, die Grundlage für den Ausbau von Biographien, und oftmals scheinen erst mit ihnen die Künstler ausreichend geeignet, "Einflüsse" auszuüben und "Schulen" zu bilden. Derjenige Maler oder Bildhauer des Spätmittelalters, von dem wir nicht mehr wissen, wie er hieß, hat geringere Chancen auf einen besonderen Stellenwert in der modernen Kunstgeschichtsschreibung. Umgekehrt aber kann die Verbindung mit einem Namen ein überliefertes Kunstwerk adeln. Dies zeigt sich nicht allein an der allgemein bekannten Taufpraxis des Kunsthandels. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion kann die Zuschreibung an einen "Namen" die Wahrnehmung und Einschätzung eines überlieferten Kunstwerkes in nicht unerheblicher Weise beeinflussen.

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 01.07.2009
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